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Nachrichten aus der Kunstszene

Behalten oder löschen: Was sollte Corona der Kunstwelt hinterlassen?

Unser Kurator nimmt das Phänomen der digitalen Kunstausstellung unter die Lupe, erkundet den Geist der Zusammenarbeit und fragt nach der Zukunft der Kunstgalerie.

Von Phin Jennings | 31. März 2021

Im Grunde war Anfang 2020 alles relativ normal. Die Kunstwelt, wie die übrige Welt, ging ihren gewohnten Geschäften nach. Mit dem Auftauchen und der globalen Verbreitung des Coronavirus hielt das Chaos auf ganzer Linie Einzug. Plötzlich waren die Dinge alles andere als normal. Dann fingen wir an, unsere Welt durch Maßnahmen zu organisieren und uns durch das Chaos zu bewegen. Man begann, von einer „neuen Normalität“ zu sprechen. Mehr als ein Jahr später erscheint es erreichbar, dass bald wieder so etwas wie Ordnung einkehren wird. Ob positiv oder negativ: Niemand erwartet, dass die Dinge einfach wieder so werden, wie davor. Die Version der „alten Normalität“, zu der wir zurückkehren, wird unweigerlich Spuren der „neuen Normalität“ davontragen, aus der wir kommen.

In diesem Monat möchte ich die Mechanismen und Methoden unter die Lupe nehmen, die in der Kunstszene während der Pandemie an Bedeutung gewonnen haben. Außerdem möchte ich die Frage aufwerfen, ob wir bestimmte Aspekte davon in der neuen/alten normalen Welt, auf die wir zusteuern, behalten wollen.

Congregation, 2020, von Will Claridge

 

Online-Kunstausstellungen

So sehr ich es mir auch wünschen würde: Ich kann nicht über das vergangene Jahr schreiben, ohne die stürmische Liebesbeziehung der Kunstwelt mit dem Online-Präsentationsraum zu erwähnen. Auch wenn sie in der Programmerstellung von Galerien im letzten Jahr allgegenwärtig war, wurde doch schon bereits genügend darüber geschrieben. Daher möchte ich meinen Überblick kurz halten.

Zunächst haben sie uns in ihren Bann gezogen, dann (vielleicht als uns klar wurde, dass es sich dabei eigentlich um keine Räume handelt und sie sich kaum von anderen Webseiten unterscheiden) wurden wir unserer Illusionen jäh beraubt. Mittlerweile haben wir uns wahrscheinlich auf einen etwas realistischeren Blick geeinigt: Online-Ausstellungen können eine praktische Option zur Betrachtung von Kunst sein. Man kann anstelle von Vor-Ort-Ausstellungen Informationen zu Kunstwerken sammeln und diese gegebenenfalls auch kaufen. Sie sind eine sinnvolle Ergänzung, aber keine bahnbrechende Innovation.

Ich hoffe, dass die Galerien aus dieser turbulenten Romanze lernen, wie wichtig eine gute Dokumentation und Archivarbeit ist. Durch Fotografien, Videos, Essays und andere Medien können Galerien bestimmte Aspekte ihrer Ausstellungen mehr Menschen (in einem zugegeben etwas begrenztem Format) zugänglich machen, als dies jemals mit physischen Räumen möglich wäre. Mit guter Dokumentation kann man die Themen und Kunstwerke einer Ausstellung immer wieder aufrufen, die vor vielen Jahren in weit entfernten Galerien stattgefunden hat. Nicht in einem Online-Raum, sondern auf einer einfachen Webseite. Viele Galerien haben das ohnehin schon lange so gemacht. Damit wird weder der Anbruch einer neuen Ära der Art Experience eingeläutet, noch benötigen wir hierfür teure VR-Brillen oder 3D-Wiedergabetechnik. Das ist bei vielen spannendenden und lohnenswerten Dingen im Leben der Fall.

Wednesday, 2021, von Denise Dalzell

 

Über den Galerierand hinausschauen

Auch sollte erwähnt werden, dass die Grenze zwischen dem, was im Rahmen von Corona sicher ist und was uns gefährdet, nicht unmittelbar zwischen offline und online verläuft. Das Internet ist nicht der einzige Ort, an dem wir uns unter Einhaltung der Abstandsregeln mit Kunst befassen können. Ich habe viele Möglichkeiten kennengelernt, wie man sich Kunst ganz „altmodisch“ nähern kann, ohne im Dunstkreis seines Nachbarn zu stehen.

Beispielsweise richten sowohl die Vitrine Gallery als auch die Everybody Lives Gallery Ausstellungen aus, die komplett von außen betrachtet werden können. Ein weiteres Beispiel ist Image Dump: eine Reklametafel, die Reproduktionen von Nachwuchskünstlern einem breiten Publikum zugänglich macht. Mail Art bzw. Kunst per Post ist auch durch Projekte wie die Going Postal Gallery, die Bruton Correspondence School und die Queer Correspondence Initiative des Cell Project Space noch beliebter geworden.

Es gibt viele Gründe, warum jemand vielleicht keinen Galerieraum betreten möchte. Im letzten Jahr war die Gefahr durch COVID-19 in unseren Gedanken vorherrschend, das Risiko wird aber letztlich irgendwann immer geringer werden. Andere Gründe hingegen – von körperlichen Einschränkungen über die Angst vor den durchbohrenden Blicken des Schaltermitarbeiters bis hin zur schlichten Übersättigung mit dem traditionellen Format – werden bleiben. Das wünsche ich mir auch für den Aspekt, der mir an der Kunstwelt mitunter am besten gefällt: das Experimentieren mit neuen Formaten und neuartigen Verfahren – damit wir die Kunst einem breiten Publikum auf relevante Weise zeigen können.

scorpio., 2019, von Alejandro Dominguez

 

Der Geist der Zusammenarbeit

Vor einem Jahr habe ich über die Notwendigkeit von Megagalerien geschrieben, um kleinere Kunsthändler während dieser unsicheren Zeit zu unterstützen. Mit großer Freude habe ich gesehen, wie genau das passiert ist. Die Plattform von David Zwirner war ein hervorragendes Beispiel dafür, wie aufstrebende Galerien von London bis New York wertvollen Raum auf der Webseite der Galerie bekamen, um die Kunstwerke ihrer Künstler auszustellen (und hoffentlich zu verkaufen).

Diese Unterstützung durch die großen Player war wirklich ermutigend. Was ich jedoch nicht erwartet hatte – und ganz klar begrüße – ist der generelle Geist der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen den Galerien im letzten Jahr. So hat die KOW Gallery in Berlin vor kurzem Joint Ventures ins Leben gerufen: ein ganzjähriges Ausstellungsprogramm, das in Zusammenarbeit mit einer Liste internationaler Kunsthändler, unter anderem dem Londoner Modern Art und Carlos/Ishikawa, erstellt wurde. Auf ihrer Instagram-Seite erklärt die Galerie, dass sie ein „Ort für Zusammenarbeit und Austausch“ sein möchte.

Galerien haben sich auch zusammengetan, um größere Projekte mit kollaborativen Modellen zu fördern und Veränderungen über die Ausstellung und den Verkauf von Kunst hinaus anzustoßen, beispielsweise durch Verpflichtungen, das eigene Verhalten zu ändern, oder durch Spenden an gemeinnützige Zwecke. Hunderte von Kunsthändlern, Künstlern und Organisationen sind der vor kurzem gegründeten Gallery Climate Coalition beigetreten – mit dem Ziel, die CO2-Bilanz der kommerziellen Kunstwelt in den nächsten zehn Jahren um 50 Prozent zu senken. Außerdem wird in diesem Monat die Make Room Galerie in LA eine Reihe von Ausstellungen in Zusammenarbeit mit einer Handvoll weiterer Galerien ausrichten, unter anderem Jeffrey Deitch und Various Small Fires. Alle Einnahmen aus den Verkäufen gehen an die gemeinnützige Organisation Stop AAPI Hate, die in den USA Vorfälle von Rassismus und Fremdenhass gegen asiatisch-amerikanische Menschen und solche, die von den Inseln im Pazifischen Ozean stammen, verfolgt.

Dieses Gefühl von Zusammenhalt sollten wir uns bewahren. Die kommerzielle Kunstszene als Nullsummenspiel zu betrachten, ist eine zu starke Vereinfachung. Das ist im letzten Jahr vielleicht mehr als zuvor deutlich geworden. Galerien finden neue Möglichkeiten, um ihre Künstler zu unterstützen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen, indem der Konkurrenzgedanke beiseitegeschoben und durch ein partnerschaftliches Miteinander ersetzt wurde.

Schon bald wird die Kunstwelt wieder in der glücklichen Lage sein, dass viele dieser Initiativen nicht mehr benötigt werden. Mit Blick auf die Zukunft wär es leicht, sie entweder blind weiterzuführen, obwohl sich die Welt um uns herum verändert hat, oder sie wieder komplett einzustampfen. Meine Hoffnung ist, dass wir hier nuancierter vorgehen, jedes Mittel für sich betrachten und damit dafür sorgen, dass die „Normalität“, zu der wir in den kommenden Monaten zurückkehren, besser ist als die, die wir im letzten Jahr zurückgelassen haben.

 

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